Unordnung wird physikalisch mit Entropie bezeichnet. Es ist ein Trend in der Natur, dass die Entropie in einem System immer größer wird. Wer kennt das nicht von zuhause: Räumen Sie mal eine Woche nicht auf und alle Dinge werden sich gleichmäßig “unordentlich” verteilen. Was wir brauchen, ist Struktur. Ohne Regeln kein Überleben.
Das Einhalten von Regeln ist tief in uns verankert. Von Geburt an sind wir abhängig von der Gemeinschaft und wollen, ja müssen dazugehören, um überleben zu können. Und die Gemeinschaft macht einem schnell klar, nach welchen Regeln gespielt wird. Irgendwann dann begegnen uns auch solche Menschen, die die Regeln brechen: geklaute Kaugummis, gemobbte Mitschüler, erpresste Hausaufgaben. Unser Gewissen begehrt auf, wir reagieren geschockt, empört, wütend – oder wir stecken im Dilemma, den anderen nicht verraten zu wollen, denn er gehört ja zu unserer „Gemeinschaft“.
Als Erwachsener können die Situationen bedrohlicher werden, wenn einem zum Beispiel am Arbeitsplatz Regelbrüche begegnen: Im Team kursieren Vorwürfe gegen den Vorgesetzten und reichen von Mobbing über Diskriminierung bis zu unangemessenem Führungsstil. Was tun?
Prompt gesellen sich zwei gute alte Bekannte zu mir: Engelchen und Teufelchen. Beide halten nicht mit Ratschlägen hinterm Berg. Lauschen wir mal rein in meine innere Talk-Runde zwischen „Superwoman“ und „Couch potato“:
- „Das geht gar nicht. Da müssen wir was tun!“
- „Nun mach‘ mal halb lang… Vielleicht hat der einfach gerade Stress mit seiner Frau.“
- „Auch wenn er vielleicht gerade privat Probleme haben mag, so gehen wir doch nicht miteinander um! Das Ganze geht schon eine Weile und die Kollegin ist nicht die einzige Betroffene.“
- „Vielleicht sind die ja alle auch nur neidisch auf seine tolle neue Position.“
- „Und deswegen solche Vorwürfe? Das kann ich mir nun wirklich nicht vorstellen. Ich halte es da gern mit dem guten alten: „Was Du nicht willst, das man Dir tu, das füg auch keinem andern zu!“ Und so will ich auf gar keinen Fall behandelt werden. Also werde ich jetzt etwas tun, wenn die Betroffenen sich selbst nicht trauen!“
Vielleicht sprechen sie den Übeltäter gleich direkt an und können ihm über konstruktives Feedback sein Verhalten bewusst machen und alles zum Guten lenken. Doch je länger herabwürdigendes oder sogar kriminelles Verhalten andauert und sich oft subtil im Alltag zeigt, umso schwieriger wird es, dieses zu thematisieren. Gerade wenn Teammitglieder mit langer Zugehörigkeit oder sogar Führungskräfte ein solches Verhalten zeigen, prägt es die Kultur des Miteinanders, wird „normal“.
Werte als innerer Kompass
Haben Sie sich im letzten Meeting getraut, den Elefanten anzusprechen, der für alle sichtbar im Raum stand? Die eine Frage, die man am Anfang des Projektes vergessen hat zu beantworten und die jetzt, weit im Projekt vorangeschritten, immer wieder für Störungen sorgt? Oder hatten Sie Angst, als inkompetent, vorlaut oder unruhestiftend wahrgenommen zu werden? Oft wird dieser Selbstschutz gewählt, obwohl ein solches Verhalten erwiesenermaßen die Zusammenarbeit erschwert und Projekte zäh in die Länge zieht.
Denn wir lieben nicht nur das Miteinander – so anstrengend es auch manchmal sein mag –, wir lieben auch unsere Komfortzone. Bloß keine Veränderungen! Doch die Extreme „alles wie gewohnt“ und „das geht gar nicht“ funktionieren einfach nicht gleichzeitig. Manchmal muss man die Entscheidung treffen, unangenehme Dinge anzusprechen, Dinge, die unseren Werten als „innerem Kompass“ zuwiderlaufen. Auch, damit man sich morgens noch im Spiegel anschauen mag!
„Speak-up“-Kultur als Motor des Wachstums
Eine Arbeitsumgebung, in der Mitarbeitende ihre Gedanken, auch zu kritischen Themen, ohne Angst vor negativen Konsequenzen zum Ausdruck bringen können, das ist mit „Speak up“ gemeint. Organisationen müssen sich für eine solche Kultur entscheiden und gewünschtes Verhalten bewusst machen. Unternehmen profitieren in mehrfacher Hinsicht, denn gerade eigenverantwortliches Denken und kritische Rückmeldungen von Angestellten als Experten an der operativen Basis sind besonders wertvoll für die Geschäftsentwicklung. In der Alltagskommunikation können Konflikte zwischen Mitarbeitenden frühzeitig angesprochen werden. Darüber hinaus können Fälle von vermutetem Fehlverhalten über definierte Kanäle vertraulich gemeldet werden.
Psychologische Sicherheit
Unternehmen profitieren davon, wenn Mitarbeitende sich wohlfühlen, ihre Meinungen, Vorschläge oder Bedenken unumwunden auszudrücken. In einer angstfreien Umgebung ist der fundamentale Rahmen die sogenannte psychologische Sicherheit. Das Unternehmen kann zum Beispiel Unternehmenswerte offen kommunizieren, mit Richtlinien und definierten Prozessen den Rahmen für Mitarbeitende schaffen, damit diese angstfrei und motiviert arbeiten können. Sie wissen, wie sie zu handeln haben, wer sie unterstützt und dass auch kritische Themen angesprochen werden können.
Aber einfach so frei von der Leber weg seine Gedanken äußern? Wie werde ich von meinem Umfeld gesehen? Was passiert mit mir, wenn ich das anspreche? Sich kritisch zu äußern, kann eine große psychologische Herausforderung sein. Hier sind Mut und Vertrauen in die Kultur, die Werte und die Prozesse des Unternehmens gefragt.
In einem angstfreien Umfeld kooperieren Menschen häufiger, übernehmen mehr Verantwortung und auch neue Aufgaben. In einer solchen Kultur fühlen sich Mitarbeitende ernst genommen, kündigen seltener, nehmen Veränderungen besser an, sind effektiver und tragen so maßgeblich zum wirtschaftlichen Erfolg bei.
Arbeiten Sie in einem angstfreien Umfeld? Wird Ihre Stimme gehört? Werden die Werte Ihrer Organisation gelebt? Es ist auch an jeder und jedem Einzelnen, Verantwortung für eine offene Kultur zu übernehmen – für ein wertschätzendes Miteinander auf Augenhöhe.
„Unser Leben beginnt aufzuhören an dem Tag, an dem wir über wichtige Dinge Stillschweigen bewahren.“ (Dr. Martin Luther King, 1929 - 1968, US-amerikanischer Baptistenpastor und Bürgerrechtler)