Digital Detox
Gehirnzellen entgiften
durch Appstinenz
Apps können süchtig machen, deshalb ist das naheliegende Wortspiel einfach zu schön: Wie wäre es mit etwas Appstinenz? Lustig. Es muss ja nicht gleich der kalte Entzug sein, aber in unseren Stressmanagement-Trainings identifizieren unsere studentischen Teilnehmer immer wieder das Smartphone als größten Zeit- und Energiedieb. Unterbrechungen durch Whats App, Facebook und zahlreiche andere Apps schlagen sich auf dem Stresskonto tonnenschwer nieder. Jede Unterbrechung lässt das Niveau unserer Aufmerksamkeit sinken:
Die Konzentration fällt ab, der abgelenkte Mensch braucht viele Minuten, um wieder ganz beim Lernstoff zu sein – und schon meldet sich der andere Stoff mit dem nächsten Ploppen, Summen oder Vibrieren.
Bis zu 85 Mal am Tag nehmen Menschen zwischen 18 und 33 das Handy in die Hand
Warum hat das Smartphone mit seinen teuflischen Applikationen ein derartiges Suchtpotenzial? Weil es das Belohnungszentrum im Gehirn jubeln lässt. Das Handy piept, wir schauen drauf und was finden wir vor? Die Nachricht der besten Freundin. Die Einladung zu einer Party. Eine superinteressante Nachrichten-Meldung, selbst wenn es eine schlechte ist. Anregender als Stochastik oder Mittelhochdeutsch, wo die Belohnung durch die bestandene Prüfung erst in ferner Zukunft winkt, ist es in diesem Moment auf jeden Fall. Und so werden wir zu Junkies. Schon das Piepen löst einen kleinen Freudentaumel aus. Und wenn es nicht piept, sehen wir nach, ob wir es nur überhört haben oder senden unsererseits eine Message ab, die eine Resonanz bewirken könnte.
Bis zu 85 Mal am Tag nehmen Menschen zwischen 18 und 33 das Handy in die Hand, auf der ewigen Jagd nach angenehmem Input. Das fanden Forscher der Universität Lancaster heraus. Soziale Netzwerke und Spiele sind dabei die größten Magneten. Multitasking? Ein Gerücht, das Arbeits- und Lernpsychologen nie bestätigen konnten.
Nicht übertrieben: Das Smartphone kann zur ernsthaften Sucht werden
Doch genauso wie beim Rausch durch Alkohol oder der Gelassenheits-Injektion durch Zigaretten winkt bei jedem nervösen Griff zum Handy tief aus der Seele die Erkenntnis: Irgendwas läuft hier doch falsch. Erst war es geil, aber jetzt bin ich doch irgendwie genervt, fahrig, zerstreut und abgelenkt. Nach dieser Erkenntnis kommt die nächste, nämlich diese: Es ist trotz Einsicht schwer, es zu lassen. Sucht per Definition.
Hilfe kommt aus Gummersbach. Der Informatiker Matthias Böhmer ist Experte für Smartphone-Sucht und hat etwas entwickelt: Eine App gegen Apps sozusagen. AppDetox nennt sich das kleine Programm und kann Smartphone-Junkies helfen, etwas cleaner zu werden. Gnadenlos misst die App die Nutzungszeiten für Whats App und Co.
AppDetox hilft beim digitalen Entgiften außerdem durch radikale Sperrzeiten, die man für jede einzelne App definieren kann. So kann der Bürgersteig von Facebook pünktlich um 20 Uhr hochgeklappt werden, sofern man das möchte. Funkstille bis zum nächsten Morgen. Das gilt natürlich für jedes beliebige Zeitfenster, das man für sinnvoll hält. Eine weitere Möglichkeit, sich zu kontrollieren, ist die Zugriffszahl. Nach dreimaligem Aufrufen von Twitter ist dann Schluss. Wer sich dann fühlt wie ein Kettenraucher mit leerem Päckchen in der Provinz, wo zu später Uhrzeit die letzte Tankstelle gerade geschlossen hat, der weiß, dass es für AppDetox allerhöchste Zeit war.
Ganz so einfach wird es einem nicht gemacht, aber als Digital Native hat man die App natürlich auch in Sekundenschnelle wieder deinstalliert. Vielleicht hat das Experiment aber schon vorher seine Wirkung entfaltet. Digitales Entgiften sorgt für Fokus und Klarheit, es schärft den Blick für das Wesentliche und auch für die wirklich hilfreichen und nützlichen Funktionen eines Smartphones, die das Leben erleichtern und bereichern können. Alles eine Frage der Dosis, möchte man hier noch hinterherschieben.
Wem das nicht weit genug geht, der kann übrigens auch in Smartphone-freien Zonen Urlaub machen. Immer mehr Hotels werben damit, das Handy am Eingang einzukassieren, um innen drin ganz analoge Wellness zu offerieren. Für den studentischen Geldbeutel empfehlen wir vorerst allerdings AppDetox im Selbstversuch. Kleines Experiment am Rande: Hinterfragen, was man tut. Stimmt mit dem Studium, dem Job und dem Alltag alles, wenn das dauernde Herumsurfen ständig so viel interessanter ist? Vielleicht gibt es auch „da draußen“ wieder Balsam fürs Belohnungszentrum. Wenn man erst einmal wieder hinschaut.