Brauchen wir immer mehr?
Gedanken zum maximalen Lebensstandard
Es ist schon paradox: Das Studium bezeichnen viele Menschen rückblickend als eine der besten Zeiten ihres Lebens. Studenten leben meistens auf wenigen Quadratmetern, sind ständig knapp bei Kasse und rollen ihre Picknickdecke am Badesee aus, statt an den Riffen der Malediven zu schnorcheln. Ein verbeulter Fiat reicht für die Spritztour aufs Land und Spaghetti mit Tomatensauce schmecken mit 23 einfach köstlich. Beste Zeit? Huch, wie war oder ist das denn möglich, trotz des leeren Portemonnaies?
Mit wenig zufrieden zu sein ist eine Kunst, die wir mit fortschreitendem Alter leider oft verlernen. Die Referenzgruppe setzt Standards und mit den neuen Maßstäben an das materielle Leben wollen viele reflexartig mitziehen. Plötzlich will man nicht mehr „leben wie ein Student“, aus dem Charme der Einfachheit wird plötzlich ein Stigma. Aber brauchen wir wirklich immer mehr?
Vom Fiat zum VW Golf zum Audi
Warum auch immer: Eine breite Masse unserer Gesellschaft ist auf ständiges Wachstum fixiert. Aus der Studentenwohnung muss eine größere Wohnung werden. Aus der großen Wohnung eine noch größere. Aus der noch größeren Wohnung am Ende ein Haus mit Garten, am besten freistehend: Der klassische deutsche Lebenstraum. Nach Holland an den Strand zu fahren oder in den Alpen zu wandern, reicht jetzt auch nicht mehr. Nicht zwei, nicht drei, sondern mindestens vier Sterne sollte das in Flugentfernung liegende Urlaubshotel am besten haben. Und der verbeulte Fiat? Weg damit. Jetzt wird es mindestens mal Zeit für einen VW Golf, der später vom Audi und dann vielleicht von der Mercedes-C-Klasse abgelöst wird. Die materielle Einfachheit im Studium war sexy und romantisch – alles hatte irgendwie Charme, der aber mit Job und jenseits der 30 umgedeutet wird. Das einfache Leben erscheint uns plötzlich nicht mehr angemessen, wir glauben, zum Erwachsensein gehört doch irgendwie mehr und gewisse Dinge „gehen jetzt einfach nicht mehr“.
Steigende Ansprüche erhöhen dauerhaft die Kosten
Prinzipiell sind steigende Ansprüche ja nichts Verwerfliches. Eine schöne, große Wohnung mit geschliffenem Parkett ist angenehm und der neue Wagen hat Airbags und mehr Knautschzone. Aber der neue Standard dank festem Einkommen hat auch seinen Preis: Die laufenden finanziellen Verpflichtungen steigen. Die Beule im Mercedes wird teurer als die Beule im Fiat. Und aus diesen neuen Notwendigkeiten resultiert der Druck, das Geld für die permanent hohen Kosten heranzuschaffen. Auch ein Rückschritt im Lebensstandard ist für viele Menschen eine schwierige Vorstellung: Was einmal erreicht wurde, will man mindestens halten. Sonst gibt’s auf dem persönlichen Glücksbarometer Punktabzug. Jedenfalls stellen wir uns das meistens so vor.
„Von dem Geld, das wir nicht haben, kaufen wir Dinge, die wir nicht brauchen, um damit Leuten zu imponieren, die wir nicht mögen.“
Der Finanzblogger Holger Grethe (ZENdepot) hat dazu einen Artikel geschrieben, der nachdenklich macht. Er heißt: Kennst du deinen maximalen Lebensstandard? Vom Existenzminimum hat jeder schon mal gehört. Doch es kann auch ein interessante Frage sein, wo die persönliche Obergrenze liegt – gerade auch dann, wenn es um das Thema Vermögensbildung geht. Denn alles, was nicht in die laufenden hohen Kosten oder in unnötigen Luxus fließt, kann man genauso gut auch zur Seite legen und sich irgendwann Freiheiten ermöglichen, die nicht nur materieller Natur sind: eine interessante Perspektive auf das Sparen.
Mehr Geld, mehr Glück?
Grethe beschreibt in seinem Blog-Beitrag ein grundlegendes Missverständnis, nämlich dass hochwertige und teure Produkte in einem direkten Verhältnis zu mehr Lebensglück stehen. Irgendwie ahnen wir ja, dass dem nicht so ist. Geld ist nicht Glück, scheinbar eine Binsenweisheit! Die im wahren Leben aber oft trotzdem nicht ankommt. Grethe plädiert für eine bewusste Entscheidung: bis hierhin und nicht weiter. Und das folgt dem denkbar einfachen Prinzip, dass Zufriedenheit auch aus einer Herabsetzung der Ansprüche resultieren kann. Sich von einer Sekunde auf die andere plötzlich reich fühlen? Das geht. Zumindest für einen relativ großen Teil der Bevölkerung und viele, die diesen Artikel lesen.
Die Referenzgruppe setzt die Standards
Grethe hat sich auch mit dem Warum beschäftigt. Wie kommt es, dass Menschen irgendwann glauben, sie müssten sich jetzt dieses und jenes leisten? Weil sich nach der Berufsausbildung oder nach dem Studium die Referenzgruppe ändert. Wir sind nicht mehr umgeben von lauter Menschen, die in WGs leben und beim Pizzaservice bestellen. Die neuen Maßstäbe setzen Freunde, Kollegen und Nachbarn mit ihren scheinbar selbstverständlichen materiellen Ansprüchen. Müssen wir haben, was alle haben? „Sich bewusst zu entscheiden, den materiellen Wohlstand der anderen nicht als Maßstab zu nehmen, erfordert ein gewisses Rückgrat. Man könnte auch sagen: ein dickes Fell“, schreibt Holger Grethe auf seinem Blog, der gedanklich auch vom japanischen Zen inspiriert ist. Man muss es schon aushalten können, von anderen vielleicht für etwas bedauert zu werden, womit man selbst eigentlich kein Problem hat.
JETZT zufrieden sein
„Mit einem maximalen Lebensstandard bekommst du etwas, was all denen, die deine materielle Bescheidenheit missverstehen, abgeht: finanzielle Unabhängigkeit, innere Ruhe und Zufriedenheit.“ Zu merken, dass im Hier und Jetzt eigentlich nichts fehlt, ist eine kostbare Freiheit. Und erst Zufriedenheit mit dem was wir haben, erlaubt echte Freude über die Geschenke des Lebens. Ansonsten werden Wünsche zur Endlosspirale: Die Freude an der Erfüllung ist flüchtig und schon lauert das nächste Defizit, das wir mit einem tolleren Auto, einer größeren Wohnung oder der nächsten Fernreise füllen müssen. Um gut dazustehen, um mithalten zu können, um ein Leben zu führen, das unser Einkommen auch nach außen widerspiegelt.
Aber ist das auch das Leben, das wir aus tiefstem Herzen heraus wirklich führen wollen? Dazu ein Zitat aus dem Film „Fight Club“:
„Von dem Geld, das wir nicht haben, kaufen wir Dinge, die wir nicht brauchen, um damit Leuten zu imponieren, die wir nicht mögen.“
Dieses Lebenskonzept in Frage zu stellen, macht sofort ein wenig zufriedener, und zwar JETZT.