Aufruf für einen radikalen Akt der Selbstliebe
Lass uns heute doch mal eintauchen in ein Thema, das leider noch immer so oft ignoriert oder zumindest mit Schweigen versehen wird: Prüfungsangst.
Vielleicht an der Stelle gleich eine Einschränkung
Ich rede hier nicht von Nervosität. Dieses Gefühl kurz vor der Präsentation, der Rede oder der Prüfung, wenn einem etwas flau wird im Magen. Diese Spannung gehört dazu. Sollte übrigens auch immer da sein, denn so bleiben wir voll im Moment. Die größten Redner auf den Bühnen kennen diese Nervosität – und begrüßen sie.
Ich rede und schreibe hier von diesem anderen Gefühl:
Wenn nichts mehr geht. Wenn die Luft wegbleibt oder Du so schnell atmen musst, dass Du auch so kaum Sauerstoff erhalten kannst. Dieser Moment, wenn Du spürst, wie Dir kalt und heißt zugleich wird, Dein ganzes System kapituliert. Ich rede hier von Panikattacken. Sie können mehr oder weniger ausgeprägt sein – doch eins haben sie gemeinsam: Sie machen uns in diesem Moment handlungsunfähig. Blackout – nichts geht mehr.
Woran erkenne ich Panikattacken?
Zum Beispiel an: Herzrasen, Atemnot, Schwindel, Schwitzen, Zittern, Engegefühl in der Brust, weichen Knien, Taubheitsgefühlen, Übelkeit.
Was genau passiert hier eigentlich – und was kannst Du tun, solltest Du in diese Situation kommen? Lass uns einen Ausflug in die Psychologie und die Neurologie machen – denn hier liegen so viele Antworten. Wenn wir etwas erleben (egal was!), dann speichert unser Gehirn dies vielschichtig ab.
Lust auf ein kleines Experiment:
Denke doch mal an einen wundervollen Moment in den letzten 3 Monaten.
- An was genau erinnerst Du dich?
- Welche Sätze fallen Dir hierzu ein?
- Welche Bilder kommen Dir in den Sinn?
- Welche Gefühle löst das jetzt gerade bei Dir aus?
- Wo genau spürst Du das in Deinem Körper?
Ich hoffe, Du hast mitgemacht - denn dann wirst Du gemerkt haben, dass Erinnerungen auf verschwenden Ebenen bei Dir abrufbar sind (Gedanken, Gefühle/Emotionen und körperlicher Reaktion).
Bei Erlebnissen, die wir als gefährlich, als angsteinflössend oder als abschreckend wahrgenommen haben, geschieht genau das gleiche. Mit einer Ausnahme: wenn wir das Erlebnis nicht verarbeiten konnten, dann werden all diese Eindrücke unterschiedlich abgelegt (fragmentiert).
Stell es Dir vor, als hättest Du für Deinen Computer einen Befehl programmiert für diese Erinnerung. Eigentlich reicht Deine Tastenkombination, um alles schön geordnet abzurufen. Nur in diesem Fall eben nicht, denn die einzelnen Befehle wurden auf unterschiedlichen short keys abgespeichert. Dieses ausgeklügelte System existiert nur aus einem Grund: um uns davor zu schützen, diese unschöne Erfahrung nicht noch einmal zu machen.
Wenn wir hier nun einmal in unser Gehirn schauen, dann bedeuten Panikattacken, dass die Amygdala übernimmt. Die Amygdala ist unser Emotionskontrollzentrum. Hier sind wir im Flucht-, Kampf- oder Schockmodus. Und dieser Bereich hat nichts damit zu tun, dass wir ja wissen, dass uns nicht geschieht – denn dieses Wissen, das ist in unserem Neocortex vorhanden. Rational wissen wir, dass uns in mündlichen Prüfungen zum Beispiel keine Gefahr droht – doch die Amygdala reagiert nicht auf Wissen. Sie reagiert auf einen dieser verteilten Reize – und geht in den Schutzablauf über. So kann zum Beispiel ein bestimmter Geruch, ein Gedanke oder auch ein Ort dazu führen, dass wir wieder in einen Angstzustand verfallen.
Fassen wir noch einmal zusammen:
- Wenn in bestimmten Situationen die Panik die Kontrolle übernimmt, dann schützt sie uns davor, etwas nicht wieder zu erleben.
- Unschöne und emotional sehr aufgeladene Erlebnisse wurden auf unterschiedlichen Ebenen abgespeichert.
- Durch einen Auslöser (sog. Trigger) kann dann eine Reaktionskette in Gang gesetzt werden.
Und genau darin liegt auch wieder die Lösung: Denn dadurch können wir hier auch damit arbeiten. Wir dürfen diese Erfahrung nehmen und quasi so programmieren, dass es keinen Schutz mehr braucht.
Einfach? Nicht unbedingt – doch oftmals machbar. Was braucht es dafür? Einen radikalen Akt der Selbstliebe!
Denn wir dürfen uns selbst hier so ernst und wichtig nehmen, dass wir es offen anschauen, ohne uns zu verurteilen. Auch das ist so leicht gesagt – und oft schwer getan. Nicht ich habe versagt, sondern ich habe einen Anfall gehabt. Und das bedeutet auch: Hol Dir Hilfe. Sprich mit Freund*innen, nimm Kontakt mit der psychologischen Beratungsstelle Deiner Universität auf oder suche Dir eine andere fachliche Unterstützung. Nimm Dich hier bitte wirklich wichtig!
Bei einer Panikattacke kannst Du in dem Moment selbst auch etwas für Dich tun:
- Nimm es an – in dem Moment, in dem wir aufhören, dagegen zu kämpfen, verkrampfen wir nicht mehr und lassen den Fluss im System wieder zu.
- Versuche bewusst Deine Atmung einzusetzen. Deine Atmung ist ein direkter Draht zu Deiner Amygdala. Hier kannst du die sog. 4-7-8-Atmung nutzen: Atme ein und zähle bis 4, halte dann den Atem und zähle bis 7 und nun atme kräftig durch den Mund aus und zähle bis 8. Wiederhole diese Atmung so lange, bis Du Dich beruhigt hast.
- Nutze auch gerne Gerüche zur Beruhigung. Unser Geruchsorgan ist direkt mit den Emotionen verbunden. So kannst Du auch Düfte gezielt nutzen. Nutze bitte 100% reine Düfte, da nur diese wirklich von unserem Gehirn erkannt werden. Vielleicht hast du einen Lieblingsduft? Rieche dann daran, wenn Du ihn brauchst.
- In der Natur werden wir ruhig – ein Ortswechsel (wenn möglich) an frischer Luft beruhigt unsere Amygdala.
Nutze diese 4 Methoden, sobald eine stressbelastete Situation kommt. So kann ein Spaziergang vor Prüfungen dazu führen, dass Du entspannter bist und damit auf Dein Wissen wirklich zugreifen kannst.
Lass uns doch gemeinsam dafür sorgen, dass Angst, Panik und andere Belastungen vielmehr offen angesprochen werden können. Denn wenn wir im Stillen für uns leiden, können wir nicht nur uns nicht helfen – wir tragen auch dazu bei, dass dieser Tabubereich immer weiter verfestigt wird. Und daher: Lass uns mit einem radikalen Akt der Selbstliebe starten: Nimm Dich wichtig!