Die Kultur des Unwissens
– oder warum wir nicht jeden Mist teilen dürfen
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Das gesammelte Wissen dieser Welt ist heute für jeden abrufbar. Das irreführende Pseudo-Wissen leider auch. Fehlinformationen verbreiten sich online genauso schnell und zuverlässig wie Fakten. Wir führen uns im Netz gegenseitig in die Irre – oft ohne böse Absicht. Da hilft nur eine freiwillige Sorgfaltspflicht.
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Sagen Sie später nicht, ich hätte Sie nicht gewarnt: Zahnpasta ist eine tödliche Waffe. Es ist nämlich so, sagen gewisse Quellen: »Trotz der Tatsache, dass Fluorid eine natürliche Substanz ist, es ist giftig für uns Menschen. Eine Injektion von 2,5 Gramm Natrium-Fluorid (eine Standardkomponente in Zahnpasta) hat eine tödliche Dosis. Der Gehalt von Fluorid in einer Tube Zahnpasta von mittlerer Größe reicht aus, um ein kleines Kind zu töten, wenn die ganze Tube auf einmal verzehrt wird.«
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So, jetzt wissen Sie Bescheid. Bestimmt sind Sie schon so gut wie hinüber. Rufen Sie mal lieber gleich Ihre Mitbewohner an, bevor es zu spät ist.Â
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Okay, das reicht jetzt. Wenn ich diesen Blödsinn noch weiter auswalze, komme ich noch in Versuchung, mir demonstrativ eine Tube Zahnpasta intravenös zu verabreichen. Wenn mich das umbringen würde, dann jedenfalls nicht wegen des Fluoridanteils.
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Sie merken schon: Ich habe mich dann doch mal genauer informiert, nachdem ich von all der unabhängigen „gesundheitlichen Aufklärung“ genug hatte. Tatsächlich verhält sich das mit dem Fluorid in der Zahnpasta so: Eine Tube Zahnpasta für Erwachsene darf in Deutschland höchstens 0,15 Prozent Fluoridanteil enthalten. Das ist gesetzlich so vorgeschrieben. Bei einer gewöhnlichen Tube von 100 Gramm macht das 150 Milligramm. Um mich mit Zahnpasta umzubringen, müsste ich mir angesichts der genannten tödlichen Dosis (die ihrerseits auch nicht belegt ist) umgerechnet also den Fluorid-Anteil von etwa 17 Tuben Zahnpasta intravenös injizieren. Auf einmal, wohlgemerkt.Â
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Teilen, bis der Arzt kommt
Leider hat der Bullshit System: Die Diktatur der Ahnungslosen in Internetforen und auf einschlägigen Webseiten führt zu einer Kultur des Unwissens, wie wir sie uns vor der Ära des Schwarms nicht hätten ausmalen können. In den meisten Fällen lautet das Prinzip Panikmache.
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Dass wir mal auf solchen Webseiten landen und vielleicht nicht sofort sehen, wem wir da aufsitzen, ist verständlich. Ist mir auch passiert und hat erst mal Verwirrung gestiftet, wie Sie sehen. Wir haben ja alle keine Zeit. Wenn wir es dann gemerkt haben, können wir uns wenigstens noch einen Spaß daraus machen. Aber an dem Punkt, der dann folgt, hört der Spaß auf: beim Teilen. Thesen wie die von der tödlichen Zahnpasta schreien ja regelrecht danach geteilt zu werden. Nicht dass noch draufgeht, weil ich diesen Link nicht teile.
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Ich bin an dieser Stelle so frei und schwimme gegen den Strom: Ich bringe stattdessen den nächsten um, der so einen Link teilt. Genauso funktioniert sie nämlich, die Diktatur der Ahnungslosen. Irgendjemand setzt irgendeinen Mist ins Netz, und wir Kamele verbreiten ihn auch noch weiter. Damit geben wir der Information erst ihr Gewicht. Manche, weil sie wirklich daran glauben, manche, weil sie Klicks generieren wollen, manche vielleicht auch, weil sie das lustig finden.
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Wenn Sie viral werden wollen, setzen Sie einfach mal das Gerücht in die Welt, dass Facebook ab nächstem Jahr kostenpflichtig wird. Ist schon vorgekommen und wurde geteilt, bis der Arzt kommt.
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Nein, bitte, tun Sie das nicht.
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Dem Druck des Schwarms widerstehen
Was können wir tun gegen die Dummheit des Schwarms? Welchen Anteil haben wir selbst daran? Und wie können wir die Kommunikation im digitalen Raum verbessern?
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Natürlich gibt es ein offensichtliches Mittel gegen das Pseudo-Wissen: gründlich recherchieren. Fakten auf ihren Absender, ihre Absicht und ihren Gehalt untersuchen und mit anderen Quellen vergleichen. Früher hat das der Journalismus für uns übernommen. Dem Schwarm fehlt dieser Filter. Natürlich könnten wir es selbst tun. Doch das ist anstrengend, das kostet Zeit. Dass wir das nicht bei jedem Thema leisten können, dem wir täglich in den sozialen Medien begegnen, ist klar. Doch dann müssen wir eben auch die Konsequenz haben, auf das Teilen zu verzichten. Auf den erhofften sozialen Stellenwert, den das Weiterverbreiten irgendwelcher Thesen generiert.
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Der Schwarm übt auf uns einen
Ego-, Beteiligungs- und Beschleunigungsdruck aus, dem unser Verstand gar nicht gewachsen ist. Konfrontiert mit all der heißen Luft glauben wir, dass wir mitmachen müssten, um dazu zu gehören. Mancher pseudo-wissenschaftliche Käse verschafft dem Absender eben mehr Aufmerksamkeit als eine fachlich fundierte Meinung. Die ist in der Regel nämlich ausgewogen und unspektakulär statt einseitig und polarisierend. Genau diese Überlegung sollten wir vom Unterbewusstsein ins Bewusstsein holen: Wozu teile ich das eigentlich?
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Klarheit für den Schwarm
Lassen Sie uns eine Welle der Klarheit starten. Lassen Sie uns den Schwarm ein kleines bisschen schlauer machen. Nicht indem wir noch mehr Meinungen hineinblasen. Denn ganz ehrlich: In wie vielen Fachgebieten, auf die wir uns online einlassen, sind wir denn wirklich Experten?
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Was ich mir wünsche ist eine Art freiwillige Selbstkontrolle. Ich schlage vor, dass wir unsere Rolle als Absender hinterfragen. Indem wir jedes Mal, bevor wir etwas teilen oder irgendwie verbreiten, in uns gehen:
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- Teile ich das wirklich für das Allgemeinwohl?
- Kann ich die Fakten wirklich beurteilen?
- Kann ich diese Botschaft verantworten?
- Braucht die Welt diese Information wirklich?
- Und braucht sie sie wirklich von mir?
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Ein paarmal ‚ja‘ wäre gut, wenn der Share-Finger zuckt.
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Kommen Sie gut an!
Ihr René Borbonus